Expose "Migration" (19.6.2000)



Das Thema Migration beschreibt in erster Linie die Flucht der Roma. In der Öffentlichkeit besteht überwiegend der Eindruck, Roma würden entsprechend ihrer kulturellen Identität und Lebensorganisation "wandern". Diese Sicht ist falsch. Das Thema Migration hat zu beschreiben und zu erklären, dass sowohl in Ost- als auch in Westeuropa die Mehrzahl der Roma seit Jahrhunderten nicht die Möglichkeit hatte, sich niederzulassen, sich einzurichten, für ihre Existenz und eine sichere Zukunft zu sorgen. 
Die Lebensbedingungen sind stets von eklatanten Einschränkungen geprägt. Hier ist auch im historischen Kontext zu reden
von vorenthaltener Freizügigkeit,
von Ausgrenzung,
von Vertreibung,
von Verfolgung
von Vernichtung und
von Pogromen.

Die Entwicklung der Länder Osteuropas in den letzten zehn Jahren zeigt deutlich, dass die geforderten persönlichen Freiheiten nicht für alle gelten und dass die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe und neu geschaffenen Märkte Armut und Marginalisierung zur Folge haben. Statt der Garantie von bürgerlichen Rechten, statt der Wahrung der Menschenrechte ist festzustellen, dass vor allem Roma einer traditionell existierenden Diskriminierung seitens der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt sind. 
Die Gründe zu Flucht sind vielfältig. Menschenunwürdige Unterbringung, fehlender Zugang zum Bildungs- und Ausbildungswesen, Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektive sind eine Seite. Die andere Seite ist die gesellschaftliche Konstruktion, Roma für politische Verfehlungen verantwortlich zu machen und sie somit als Zielscheibe für Übergriffe und Mordanschläge zu präsentieren. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien bezeichnet eine moderne Variante dieser Konstruktion. Sowohl im früheren System als auch im neuen Staatenverbund bleiben die Roma die Verlierer. Die Aggression aller konzentriert sich auf eine Minderheit, die für diesen Hass schon immer als ideale Projektionsfläche gedient hat. 

Eine Unterscheidung nach wirtschaftlichen und politischen Gründen der Flucht ignoriert den komplexen Zusammenhang von Ausgrenzung. Die regelhafte Ablehnung des Rechts der Roma auf Asyl, da beispielsweise aufgrund fehlender staatlicher Institutionen angeblich keine organisierte und betriebene Verfolgung herrschen könne, ist die letzte Stufe dieser Ignoranz. Eine andere Variante zeigt auf, dass nachgewiesene Menschenrechtsverstöße gegenüber Roma nicht als Fluchtursache anerkannt werden, da die Herkunftsländer als sicher eingestuft werden. Allein die verfassungsmäßige Fixierung der Menschenrechte reicht hierfür aus; von struktureller Diskriminierung, von Verfolgung und Mord braucht dann nicht mehr geredet zu werden. 
Die theoretische Übereinkunft vieler Länder hinsichtlich der Wahrung der Würde des Menschen, stimmt vor allem bei den Roma nicht mit den realen Verhältnissen überein!

Die europäische Einheit hat bisher nicht dazu geführt, dass Freizügigkeit und Bleiberecht auch für Roma-Flüchtlinge ungeteilt gelten. Trotz Mahnungen vieler politisch Verantwortlicher vor Ort, beginnt die Ausweisung nach Ex-Jugoslawien. Trotz der Tatsache, dass sich Roma-Familien aus Rumänien bereits seit 12 Jahren in Deutschland aufhalten und ihre Kinder dort geboren sind, wird nunmehr die Abschiebung vorgenommen. Roma aus Tschechien und der Slowakei finden in Großbritannien und Skandinavien kein Asyl, obwohl Menschenrechtsverletzungen auch seitens der Europäischen Kommission dokumentiert sind. Verschiedene westeuropäische Länder haben kurz nach Öffnung des Ostblocks entsprechende Verträge mit osteuropäischen Anrainerstaaten abgeschlossen, die die Identifizierung und Ausweisung von Flüchtlingen erleichtern. Nicht zuletzt Roma sind hiervon betroffen.

Der unsichere Aufenthalt der Roma hat verhängnisvolle Folgen. Die Existenz im Untergrund, die Angst entdeckt zu werden, im Abschiebegefängnis zu landen und gewaltsam ausgewiesen zu werden verurteilt zur sogenannten Illegalität. Dies geschieht ungeachtet dessen, ob es sich um Kinder, um Alte oder Kranke handelt. Ein Papier, dass zwar die offizielle Registrierung dokumentiert, allerdings darauf hinweist, dass jederzeit mit der Ausweisung zu rechnen ist, ermöglicht nicht, zur eigenen Existenzsicherung beizutragen. Aufgrund des fehlenden Aufenthaltstitels beginnt der Teufelskreis von Ablehnung oder befristeter öffentlicher Alimentierung, von desolater Unterbringung, von mangelnder Versorgung, von ausbleibendem Schulbesuch, fehlender Ausbildung und permanenter Kontrolle. 

So gesehen muß jede Forderung nach der Verbesserungen der Lage der Roma im Sinne von Gleichberechtigung, Wahrung der Menschenrechte, gesundheitliche Versorgung, Bildung und Ausbildung und das nachdrückliche Engagement gegen Diskriminierung und Rassismus vor allem die Sicherung eines perspektivischen Aufenthalts der Familien zur Zielsetzung haben. 

Joachim Brenner, Förderverein Roma e. v. 
Ffm., den 19.6.2000

 

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