Rede an der Mahntafel, 27.01.2020




Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Freundinnen und Freunde,

die Romni Barbara Strauss lebte ebenso wie ihr Bruder Paul über 40 Jahre in Frankfurt und wurde am 2. August 1924 in Hötersleben, Kreis Braunschweig, geboren. Die Familie hatte sieben Kinder, drei Jungen und vier Mädchen. Die Eltern und alle Geschwister, außer dem Bruder Paul und der älteren Schwester Buscha, sind in Auschwitz vergast worden; alleine weil sie Roma waren.

Frau Strauss, ihre Geschwister und die Eltern bezogen nach einigen Jahren der Reise 1934 ein Haus im Leipziger Stadtteil Möckern. Die Familie war abgesichert, alle Kinder besuchten die Schule und der Vater, Anton Stoika, hatte einen gutgehenden Viehhandel. Ende der 30er Jahre beschloss man, nach Köln zu ziehen. Die Familie hatte dort eine schöne Wohnung am Heumarkt 4. Im Krieg wurde das Haus ausgebombt. Vorübergehend lebte die gesamte Familie auf einem Rheinschiff. Die Versorgung seitens der Stadt Köln war dürftig. Vom Schiff aus kamen sie für kurze Zeit in eine drei Zimmer Wohnung, einem ehemaligen Metzgerladen.

Am 3. März 1943, gegen vier Uhr morgens, Barbara Strauss und ihr Vater waren nicht zuhause, sie besuchten eine Tante, erschien die Polizei und nahm die Familie fest. Alle Personen kamen in ein Gebäude der Gestapo, dem Severinshaus. Nachdem die Tante und Ihr Vater erfahren haben, was mit der Familie passiert ist, meldeten sie sich später freiwillig bei der Polizei in Herne. Beiden teilte man mit, sie kämen aus Schutz vor den Bomben in Ferienhäuser. Eine Arbeit zur Sicherung des Auskommens würde ihnen auch zur Verfügung gestellt. Man brachte sie nach Köln, wo bereits alle Roma und Sinti aus Westfalen zentral festgehalten und vom Severinshaus aus nach Auschwitz deportiert wurden.

Der Transport war unmenschlich. Eingepfercht in einem Viehwagon, ohne Essen, nur dürftig mit Wasser versorgt und auf Stroh liegend, nahm die 14tägige Fahrt ihren Lauf. Sie endete an der Rampe von Auschwitz. Dort wurden alle Kleinkinder, Kranke und Alte selektiert und direkt vergast. Im Hauptlager Auschwitz angekommen, schor man alle kahl. Dann mussten sie sich einem Entlausungsbad unterziehen. Die Prozedur der Demütigung begann. Die Frauen waren gezwungen, sich vor den Männern nackt auszuziehen, was - neben der generellen Erniedrigung eines solchen Aktes - für Roma nochmals einen speziellen Tabu- und Gesetzesbruch bedeutete und für die Nazis nur ein Punkt mehr in dem Programm der Vernichtung der sogenannten „Zigeuner“ war. Die SS ließ alle vor sich vorbeilaufen und prüfte genau, ob es noch Wertgegenstände, d. h. Schmuck oder Geld gab.

Das Martyrium ging weiter. Frau Strauß tätowierte die SS unwiederbringlich die KZ-Nummer Z 2643 ein. Ein ewiges Zeichen. Im speziell für die Roma und Sinti gebauten „Zigeunerlager“ teilten sich 10 Personen ein Bettgestell. Von Hygiene, vor allem für Frauen, konnte keine Rede sein. Die Tante erkrankte kurz nach der Ankunft an Typhus und verbrachte zwei Monate im Krankenbau. Die beiden Brüder Paul und Fritz wurden zur Maurerkolonne abkommandiert. Ihre Aufgabe bestand darin, das Vernichtungslager Auschwitz Birkenau weiter auszubauen. Verwandte und Bekannte, die die Familie im „Zigeunerlager“ trafen, Menschen, mit denen sie heute gesprochen hatten und das gemeinsame Leid teilten, waren am anderen Morgen tot. Das war nur ein Teil des Alltags in Auschwitz. Ein anderer Teil war der, dass Frau Strauss und ihre Schwester die Leichen der Verwandten und aller anderen, die im Block starben, wie Holz stapeln mussten. Der Stapel wurde auf einen LKW geladen, zum Krematorium gebracht und verbrannt. Beim Aufbau des zweiten Kamins mussten beide ebenfalls mitarbeiten.

Die Eltern und die vier Geschwister von Frau Strauss hielten die Strapazen des Lagers nicht lange aus. Sie erkrankten, konnten nicht mehr arbeiten und wurden vergast. Allein in der Nacht zum 2. August 1944, am 20. Geburtstag von Barbara Strauss, sind über 4000 Roma ermordet worden, nachdem sie sich vorher erfolgreich dagegen zur Wehr setzten.

Vor der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz kamen Frau Srauss und ihre Schwester in das Lager Schwarzenforst. Dort leisteten sie Zwangsarbeit für die Heinkelwerke. Zur Schikane gehörte auch die Verrichtung von Tätigkeiten, wie beispielsweise schwere Steine von links nachts rechts und dann wieder von rechts nach links zu schleppen. Die Menschen sollten sich vergewissern, nichts wert zu sein. Als Barbara Strauss für die Schwester und sich Kartoffeln stahl und erwischt wurde, bekam sie zwei mal 25 Stockhiebe mit dem Ochsenziemer auf den Rücken. Für den schon geschundenen Körper hätte dies beinahe den Tod bedeutet.

Frau Barbara Straus und viele andere Menschen litten und leiden neben den körperlichen Folgeschäden auch an psychischen Qualen. Die unbeschreibliche Tortour führte zur Traumatisierung, zu unzähligen schlaflosen Nächten, in denen Frau Strauss die Leichenberge sah und den Geruch von verbranntem Menschenfleisch nicht vergessen konnte.

Hermann Langbein, ebenfalls ein Auschwitz-Überlebender, berichtete, dass es im Vernichtungslager Auschwitz Birkenau nichts Elenderes gab als den sogenannten Zigeunerblock. Viele bezeichnen Auschwitz als Hölle, weil ihnen die Worte zur Beschreibung fehlen. Mindestens eine halbe Million Roma und Sinti wurden Opfer von Sonderkommandos, von medizinischen Experimenten, von unmenschlichen Arbeitsbedingungen, sie wurden Opfer der fabrikmäßig organisierten perfekten Mordmaschinerie.

Der jüdische Autor Roman Frister sagte, in Auschwitz wusste niemand mehr, was leben ist, "man hat den Menschen die Seele geraubt". Viele Überlebende sind daran zerbrochen. An dem ihnen zugefügten Schmerz, an dem Verlust des Glaubens an Menschlichkeit und an der Unbeschreiblichkeit dessen, was geschah. Den Verlust dieser Zuversicht, die eine Grundlage menschlicher Existenz und Gemeinschaft ist, erklärte Primo Levi mit den eindrücklichen Worten: heute ist mir von meinem Leben vor Auschwitz nur so viel geblieben, dass ich Hunger und Kälte besser ertragen kann, ich bin nicht mehr lebendig genug, mich umzubringen.

Wir treffen uns heute anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee. In Auschwitz wurden Roma, Sinti und Juden massenhaft und systematisch ermordet. Die vermeintliche Kulturnation Deutschland hatte sich zum Ziel gesetzt, alle Juden, alle Roma und Sinti zu vernichten - geplant, umgesetzt in geübter Perfektion und geteilt von der erschlagenden Mehrheit. Die Erkenntnis aus Auschwitz ist die Verpflichtung für das Engagement gegen Antisemitismus und Antiziganismus und die unverzichtbare Konfrontation, wie Fritz Bauer feststellte.

Die Missachtung der Opfer und ihrer Kindeskinder führt letztlich zur Relativierung und zur Leugnung des singulären Menschheitsverbrechens. Ihre Logik zielt auf die Ignoranz gegenüber der historischen Verantwortung und ebnet den Weg hin zur Verdrehung, die aus Opfern schließlich Täter macht. Diese Einstellung durchdringt - offen oder verdeckt - immer das rassistische und antisemitische Ressentiment und die praktische Gewalt gegenüber Roma und Sinti und Juden.

Auschwitz wird in den Augen vieler zur überflüssigen Beschäftigung oder dient zur sogenannten Aufarbeitungsaufforderung – als könnte man das, was geschah, wie ein Unfall erledigen. Die Absicht dahinter ist offensichtlich. Es soll reiner Tisch gemacht werden, damit nicht die alltägliche Gewalt im bekannten geschichtlichen Kontext erscheint. Wie anders ist zu erklären, dass 75 Jahre nach der Befreiung über 2/3 der Bevölkerung immer noch der Ansicht ist, Roma und Sinti sind kriminell und sollten aus dem Stadtbild verschwinden. Eine Meinung, die einher geht mit der Ablehnung von Muslimen und dem tief verwurzelten Hass gegenüber Juden.

„Alle europäischen Roma und Sinti sind von den Nationalsozialisten aus rassischen Gründen – vom Kleinkind bis zum Greis – verfolgt worden. Eine halbe Million unserer Menschen sind systematisch in den 40er Jahren ermordet worden. Wie Nachkommen der Verfolgten heute zum Teil behandelt werden, ist an geschichtlicher Verantwortungslosigkeit und Ungerechtigkeit kaum zu überbieten“, stellte Adam Strauss, Vorsitzender des hessischen Landesverband der deutschen Sinti und Roma, fest. Konkret bedeutet das, ein Kontext zu dem KZ Jasenovac in Kroatien, zum KZ Lety in Tschechien oder zur Deportation und Ermordung von tausenden Roma in Transnistrien wird nicht hergestellt. Die tagtägliche Ausgrenzung von Roma aus Osteuropa und die massenhafte Abschiebung von Roma Flüchtlingen ins ehemalige Jugoslawien, in Elend und Gewalt, bleibt absichtlich geschichtslos. Ein weiterer Ausdruck davon ist die Ignoranz. Die Aufklärung der Brandanschläge auf Roma von 2016 in Frankfurt steht beispielsweise immer noch aus. Mit Nachdruck wird nicht ermittelt. Ich erinnere in dem Zusammenhang auch an die Jahre zurückliegende Hetze in Fechenheim gegenüber Roma. Gegenstand war damals nicht die Überlegung über die Ursache des Elends der Betroffenen oder die Bemühung, erträgliche Lebensumstände zu schaffen. Nein, es ging mehrheitlich darum, ihren Aufenthalt zu verunmöglichen, sie zu verjagen. Die Hasstiraden des damaligen CDU-Mannes und Ortsbeiratsmitglieds Bodenstedt endeten schließlich darin, dass ein Brandanschlag, der auf das Haus einer Roma-Familie verübt wurde, den Opfern selber zugeschrieben wurde. So schließt sich der Kreis der Betrachtung. Unschuldig bleiben in dieser Logik von Gewalt und rechtfertigender Erklärung allein die Täter.

Es geht vielen Roma-Migranten aus Osteuropa schlecht. Gesetzesänderungen haben den Rechtsanspruch auf Hilfe auf ein unmenschliches Minimum reduziert. Die Brache, auf der obdachlose Roma vor zwei Jahren eigenbestimmt lebten, wurde geräumt, weil nicht alleine die Versagung von öffentlicher Hilfe ausreichte. Es musste darüber hinaus auch die Struktur der Selbsthilfe zerstört werden. Verstärkt wird nunmehr Kontrolle im öffentlichen Raum durchgeführt, Barverwarnungen ausgesprochen, es erfolgten unrechtmäßig stigmatisierende Sichtvermerke in Pässen und es wird immer stärker geprüft, ob nicht die Ausweisung der EU-Bürger, d. h. vieler Roma, die im Elend leben, umgesetzt werden kann. Ausgrenzung und strukturelle Gewalt gegenüber Roma nehmen zu. Der Verelendung wird mit ordnungsliebender Hilfeversagung begegnet, Armut mit Inobhutnahmen und Einschüchterung. Selbst auf die offensichtliche Bedürftigkeit eines schwer behinderten in Lebensgefahr befindlichen Menschen reagiert die Verwaltung mit Verschleppung der Unterstützungsleistung. Die Restriktionen in der Gesetzgebung funktionieren perfekt und sie werden mit Eifer ausgeführt. Die Fälle von Diskriminierung häufen sich. Eine aktuelle Studie, die die Missstände kritisiert, bleibt aus Koalitionsraison unter Verschluss.

Heute ist der 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, also ein Tag des Sieges. Daran zu erinnern, verschafft den wenigen Überlebenden und ihren Kindeskindern zumindest Genugtuung. Dies wird von vielen geäußert, trotz der genauen Wahrnehmung, dass Ablehnung und die Angst davor zunehmen – eine Angst, die konkret und bekannt ist und die seit Generationen in den Familien existiert.

Die Mahntafel in der Braubachstraße nimmt Bezug darauf und erinnert daran, dass 1947 Robert Ritter von Sozialdezernent Prestel als Stadtarzt und Leiter der Jugendsichtungsstelle für Gemüts- und Nervenkranke und der Jugendpsychiatrie nach Frankfurt gerufen wurde. Ihm folgte ein Jahr später seine frühere Assistentin Eva Justin, die eine Anstellung als Kinderpsychologin erhielt und als Gutachterin tätig war. Prestel war seit 1937 verantwortlich für die Konzentrationslager für Roma und Sinti in der Krupp- und Dieselstraße. Auch Personaldezernent Menzer stand hinter der Anstellung. Ritter starb 1951. Verfahren auf Initiative von Roma und Sinti gegen Justin, die ebenso wie Ritter durch ihre Tätigkeit am rassenhygienischen Institut des Reichsgesundheitsamtes verantwortlich für die Deportation und Vernichtung von 20.000 Roma und Sinti war, blieben erfolglos. Erst Anfang der 60er Jahre wurden die Verbrechen beider aufgrund von Veröffentlichungen in Quick, Spiegel und Stern und dem Engagement des Journalisten Valentin Senger wieder öffentlich diskutiert, Justin jedoch nicht verurteilt. Lediglich ihre Arbeitsstelle wurde auf den Bonameser Standplatz, wo auch Roma und Sinti lebten, verlegt. Sie erforschte dort erneut deren soziale Situation und war danach im Universitätsklinikum Ffm. tätig. Justin starb 1966 in Offenbach.

Zurzeit wird ein Dokumentationszentrum für Roma und Sinti in Ffm. wieder diskutiert. Seit Jahrzehnten fordert dies auch der Förderverein Roma. Es bleibt notwendig, daran zu erinnern, welche Rolle NS Bürgermeister Krebs und der Polizeipräsident Beckerle bei der Verfolgung von Roma und Sinti hatten. Es soll nicht verschwiegen werden, dass KZ-Arzt Mengele und einer der Haupttheoretiker der NS-Rassenideologie, Ottmar von Verschuer, an der Frankfurter Uni tätig waren. Hinweise über die Machenschaften während der NS-Zeit des hiesigen Erbgesundheitsgerichtes und die Informationen, aus welchen Schulen Roma-Kinder entfernt wurden stehen offen.

Die Erinnerung an Auschwitz und die Bemühung, dieses Menschheitsverbrechen in einen relevanten aktuellen Kontext zu setzen ist angesichts der antisemitischen Anschläge und der zunehmenden Gewalt gegenüber Roma und Sinti mehr als notwendig. Beunruhigend ist dabei nicht allein der gewalttätige rechte Rand, sondern auch die Stimmung in der Mitte der Gesellschaft, der Hass im bürgerlichen Lager - die Etablierung von Verachtung und Ausgrenzung gegenüber der Minderheit ist mehr denn je ein Kennzeichen bürgerlicher Politik.

Mit einigen beispielhaften Aktivitäten, die in engem Zusammenhang mit der persönlichen Geschichte von Verfolgung und Vernichtung steht, möchte ich schließen. Der Förderverein Roma e. V. organisiert zusammen mit der Jugendaliyah der jüdischen Gemeinde Frankfurt seit zwei Jahren einen einwöchigen Theaterworkshop zum Thema Identität, Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Während dieser Woche reflektieren sechs Jugendliche aus Israel, sechs Schüler und Schülerinnen der Anne Frank Schule Frankfurt und sechs TeilnehmerInnen des Jugendberufsbildungsprojektes des Förderverein Roma in einer Jugendherberge im Rhein-Main-Gebiet ihre Erfahrungen. Die gemeinsam entwickelten Handlungsmöglichkeiten und Gegenstrategien werden dann am Ende der Woche in einer szenischen Vorführung in der Aula der Anne Frank Schule präsentiert. Insbesondere die Jugendlichen waren bisher sehr zufrieden mit dem Verlauf und den Inhalten, deshalb möchten wir auch in diesem Jahr den Workshop fortsetzen. Im letzten Jahr hat die Medienpädagogin Ursula Schmidt drei Mitarbeiterinnen des Vereins, Frau Adam, Frau Caldaras und Frau Preda in dem Film "Weil wir Romnija sind" beschrieben und so ihre Arbeit, den Alltag und ihr Engagement gegen Antiziganismus dokumentiert. Im Herbst dieses Jahres wird in Kooperation mit der Anne Frank Bildungsstätte eine interaktive Ausstellung präsentiert, die anhand einzelner Portraits von Roma und Sinti deren Leben und die Geschichte von Ausgrenzung und Widerstand zeigt. Ich möchte auch auf unsere Ausstellung Frankfurt-Auschwitz hinweisen, die bis zum 7.2. im Projekt Nika, Niddastraße 57, zu sehen ist.

Vielen Dank für Ihre Teilnahme an der heutigen Gedenkveranstaltung.

Gedenkminute



Nicht in der Rede verlesen

Die Verfolgungsgeschichte der Romni Maria Weiss


Am 1.11.1922 wurde Frau Weiss als Maria Janosch in Bad Oldeslohe geboren. Noch als Kind bezog sie mit dem Vater Oskar und der Mutter Katharina, geborene Stefan, sowie den Geschwistern Peter, Heini, Leitschi und Geja eine Wohnung in der Siederstraße in Hamburg. Das Leben ist zunächst angenehm. Der Vater ist Geschäftsmann und die Familie gut versorgt. Unter den Nazis wird jedoch alsbald der Schulbesuch für Roma und Juden verboten, Herr Janosch verliert seinen Gewerbeschein und für die Familie beginnt die Zwangsarbeit in einer Zucker- und später in einer Fischfabrik.

1939 treibt die SS alle Roma und Sinti aus Hamburg in ein Sammellager. Maria Weiss, ihre Eltern und alle Geschwister werden ins Warschauer Ghetto deportiert. Von dort aus kommt der Vater ins KZ Buchenwald, die Mutter und die Geschwister nach Auschwitz. Die knapp 17jährige bleibt alleine zurück, wohnt in Baracken und leidet bei harter Arbeit unter Krankheit und Mangelernährung.

Frau Weiss entkommt dem Ghetto, versteckt sich, wird 1941entdeckt, verhaftet und nach Tomaschow, einem Lager bei Lublin/Polen, transportiert. Die SS schikaniert die Häftlinge. Selbst Kinder werden von den Lageraufsehern misshandelt. Nach einem Appell wird Maria Weiss wegen eines „Verhaltensfehlers“ mit 25 Schlägen auf dem „Bock“, Prügel an Kopf und Oberkörper und Arrest bestraft. Ab dem Zeitpunkt leidet Frau Weiss unter erheblichen Schmerzen an der Bandscheibe.

Das KZ Ravensbrück ist die nächste Station im Martyrium von Frau Weiss. Ab 1943 ist sie dort als Zwangsarbeiterin im Straßenbau, Steinbruch und bei verschiedenen Firmen tätig. Sie wird völlig kahl geschoren und ein Ohrring mit einem Teil des Ohres abgerissen. Die Wachmannschaften verteilen verdorbenes Brot, an dem viele Häftlinge sterben. Weil sie Kartoffeln für die im Lager internierten Kinder versteckt hat, brachte man sie im Winter in den mit Wasser gefüllten Stehbunker. Mit schwersten Erfrierungen und völlig steif endet die Tortour nach drei Tagen.

Nach Ravensbrück folgt Ende 1943 das letzte Lager, das KZ Bergen-Belsen. Misshandlungen sind auch dort an der Tagesordnung. Die Insassen werden massenhaft durch Unterernährung und Gewalt seitens der Aufseher ermordet. Die Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie endet erst am 15.4.1945 mit der Befreiung durch die britische Armee. Die Erfahrungen in den Lagern, die Brutalität am eigenen Leib, die ständige Konfrontation mit Tod und Massenmord hinterlassen bei Maria Weiss neben bleibenden körperlichen Schäden traumatische Erinnerungen.

Frau Weis kehrt zurück nach Hamburg und sucht verzweifelt nach Familienangehörigen. Sie erfährt, dass die Mutter, fast alle Geschwister ermordet wurden und selbst der Vater noch kurz vor der Befreiung des KZ-Buchenwald durch Erschießung ums Leben kam. Sie lernt ihren Ehemann Hans Weiss kennen. Er wurde am 28.10.1924 in Bernburg geboren, war im Lager Sachsenhausen interniert und starb 1987 in einer Spezialklinik in München aufgrund der Schäden an seiner Gesundheit, die ihm die KZ-Haft zufügte.

Anfang der 50er Jahre erfolgt der Umzug nach Frankfurt. Hier leben Verwandte von Hans Weiss, der als Kaufmann arbeitet. Frau Weiss bekommt einen Jungen und ein Mädchen. Die Tochter stirbt früh. Die Familie wohnt in der Albusgasse, in der Seilerstraße, in der Berger Straße und in der Nordweststadt. Nach dem Tod des Ehemannes lebt Frau Weiss alleine in der Wittelsbacher Allee.

Ein Entschädigungsantrag über den „Verband für Freiheit und Menschenwürde e. V.“ ist erfolgreich. Frau Weiss erhält wegen „Freiheitsentzug“ 2.400,-- DM. In den Entscheidungsgründen hierfür spielt ausschließlich die Internierung in Bergen-Belsen eine Rolle. Die Zeiten vorher werden als unerheblich abgetan und die rassischen Gründe der Verfolgung relativiert („Es könnte in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob bereits eine früherer Zeitpunkt als Ende 1943 als verfolgungsbedingte Inhaftierung in Betracht kommen kann …“, RP Wiesbaden, 1956).

Eine zweite Zahlung im gleichen Jahr ergeht in Höhe von 1.350,-- DM. Ihr liegt laut Urteil der Auschwitz-Erlass vom 16.12.1942 zugrunde, nach dem alle Roma und Sinti ab März 1943 ins KZ Auschwitz deportiert wurden. Das RP Wiesbaden errechnet akribisch die Restsumme und teilt mit, dass die Verfolgung der Jahre vorher nicht geltend gemacht werden könne, da diese „Umsiedlungsaktion ausschließlich auf militärischen und sicherheitspolizeilichen Maßnahmen beruhte“. Die Erfassung, Verfolgung und Internierung der Roma seit 1933, die mit der Forderung nach Sterilisierung begann und über unzählige Erlasse, Verordnungen und Deportationen schließlich in der industriellen Vernichtung einer halben Million Menschen aus rassischen Gründen endete, wird auch bei Frau Weiss in ihrer ganzen Tragweite vorsätzlich außer acht gelassen.

Mit 65 Jahren erhält Frau Weiss eine Rente nach dem Bundesentschädigungsgesetz, die mit der Sozialhilfe verrechnet wird. Ein Antrag des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma führt 2000, also 55 Jahre nach den Geschehnissen, zu einer Einmalzahlung durch den Siemens-Konzern aufgrund der geleisteten Sklavenarbeit. Die Summe von 10.000 DM wird allerdings mit einer späteren Entschädigung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft verrechnet. Proteste seitens des Förderverein Roma bleiben erfolglos. Frau Weiss bekommt noch eine einmalige Zahlung in Höhe von 2556 €. Summiert man die Entschädigungszahlungen seit 1956, so bleibt ein Almosen für die lange Zeit von Verfolgung, Terror, Gewalt und den Verlust der Familie.

Die letzten Jahre waren für Maria Weiss geprägt von Enttäuschung und Schmerz. Sie leidet an Osteoporose, Arthrose, hat starke chronische Schmerzen an Hüfte, Rücken, Lenden und Bandscheibe. Die Atemwege sind verengt. Hinzu kommen eine Herzerkrankung, Gallen- und Darmprobleme, Depressionen, Traumatisierung und starke Schlafstörungen. Eine Therapie wird von der Kasse nicht übernommen. Frau Weiss bleiben nach Abzug aller Kosten noch 280 € zum Leben. Der ewige Streit um die Finanzierung von Medikamenten zermürbt. Ihr Gesundheitszustand wird immer bedenklicher. Arztberichte dokumentieren wie auch in vielen anderen Fällen Apathie, Angstzustände, Antriebslosigkeit und Verzweiflung.

Im August 2006 beschreibt Maria Weiss letztmalig ihr Leben in einem längeren Interview vor der Kamera. Sie dokumentierte die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Roma oft an öffentlicher Stelle, um Lügen über die Verbrechen im Nationalsozialismus und dem Vergessen entgegenzutreten. Am 14.11.2006 stirbt sie nach langer schwerer Krankheit an den Spätfolgen der KZ-Haft im Kreise ihrer Familie.

Joachim Brenner, Förderverein Roma e. V.