Der Tag der Befreiung. - Roma und Sinti gedenken dem 8. Mai 1945 (06.05.2020)



Die Bedeutung der Befreiung ist für Roma und Sinti unschätzbar. Jede Familie hat in der NS-Zeit ermordete Menschen zu beklagen. Dieser Verlust hat für alle, gleich ob deutscher Sinto oder rumänische Romni, eine generative Traumatisierung zur Folge. Kind und Kindeskinder sind geprägt von der Erfahrung der Vernichtung, von der anhaltenden Diskriminierung in allen Lebensbereichen und dem fortdauernden tödlichen Rassismus. Die Morde in Hanau, die nicht aufgeklärten Brandanschläge in Frankfurt, Pogrome in verschiedenen Ländern, die alltägliche Ausgrenzung, ein Leben in Armut, Elend und Chancenlosigkeit kennzeichnen die Lage vieler Menschen der größten Minderheit Europas. Befreiung bedeutet allerdings auch die Vergegenwärtigung von Widerstand, die Geschichte der erfolgreichen Selbstorganisation und des vielfältigen Engagements gegen die umfängliche Form der Marginalisierung. Der Akt der Befreiung ist ein konstitutiver Teil des Selbstbewusstseins der Roma und Sinti.

Das Leben der Romni Maria Weiss beschreibt die Bedeutung des 8. Mai, dem Tag der Befreiung. Gleichzeitig steht es beispielhaft für den bis in die Gegenwart anhaltenden Rassismus gegenüber Roma und Sinti. Am 1.11.1922 wurde Frau Weiss als Maria Janosch in Bad Oldeslohe geboren. Noch als Kind bezog sie mit dem Vater Oskar und der Mutter Katharina sowie den vier Geschwistern eine Wohnung in der Siederstraße in Hamburg. Das Leben ist zunächst angenehm. Der Vater ist Geschäftsmann und die Familie gut versorgt. 1939 treibt die SS alle Roma und Sinti aus Hamburg in ein Sammellager. Die Familie Weiss wird in das Warschauer Ghetto deportiert. Von dort aus kommt der Vater ins KZ Buchenwald, die Mutter und die Geschwister nach Auschwitz. Die knapp 17jährige bleibt alleine zurück, wohnt in Baracken und leidet bei harter Arbeit unter Krankheit und Mangelernährung. Frau Weiss entkommt dem Ghetto, versteckt sich, wird 1941 entdeckt, verhaftet und nach Tomaschow, einem Lager bei Lublin/Polen, transportiert. Nach einem Appell wird sie wegen eines „Verhaltensfehlers“ mit 25 Schlägen auf dem „Bock“, Prügel an Kopf und Oberkörper und Arrest bestraft. Ab 1943 ist sie im KZ Ravensbrück als Zwangsarbeiterin im Straßenbau, Steinbruch und bei verschiedenen Firmen tätig. Sie wird völlig kahlgeschoren und ein Ohrring mit einem Teil des Ohres abgerissen. Die Wachmannschaften verteilen verdorbenes Brot, an dem viele Häftlinge sterben. Weil sie Kartoffeln für die im Lager internierten Kinder versteckt hat, bringt man sie im Winter in den mit Wasser gefüllten Stehbunker. Mit schwersten Erfrierungen und völlig steif endet die Tortur nach drei Tagen.

Nach Ravensbrück folgt Ende 1943 das letzte Lager, das KZ Bergen-Belsen. Misshandlungen sind auch dort an der Tagesordnung. Die Insassen werden massenhaft durch Unterernährung und Gewalt seitens der Aufseher ermordet. Die Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie endet erst am 15.4.1945 mit der Befreiung durch die britische Armee. Die Erfahrungen in den Lagern, die Brutalität am eigenen Leib, die ständige Konfrontation mit Tod und Massenmord hinterlassen bei Maria Weiss neben bleibenden körperlichen Schäden traumatische Erinnerungen.

Frau Weis kehrt zurück nach Hamburg und sucht verzweifelt nach Familienangehörigen. Sie erfährt, dass die Mutter, fast alle Geschwister und selbst der Vater noch kurz vor der Befreiung des KZ-Buchenwald erschossen wurden. Sie heiratet, ihr Mann hat ebenfalls die NS-Lager überlebt. Anfang der 50er Jahre erfolgt der Umzug nach Frankfurt, sie bekommt einen Jungen und ein Mädchen. Die Tochter stirbt früh. Nach dem Tod des Ehemannes lebt Frau Weiss alleine in der Wittelsbacher Allee. Ein Entschädigungsantrag über den „Verband für Freiheit und Menschenwürde e. V.“ ist erfolgreich. Frau Weiss erhält wegen „Freiheitsentzug“ 2400,-- DM. In den Entscheidungsgründen hierfür spielt ausschließlich die Internierung in Bergen-Belsen eine Rolle. Die Zeiten vorher werden als unerheblich abgetan und die rassischen Gründe der Verfolgung relativiert. Eine zweite Zahlung ergeht in Höhe von 1350,-- DM. Ihr liegt laut Urteil der Auschwitz-Erlass vom 16.12.1942 zugrunde, nach dem alle Roma und Sinti ab März 1943 ins KZ Auschwitz deportiert wurden. Das RP Wiesbaden errechnet akribisch die Restsumme und teilt mit, dass die Verfolgung der Jahre vorher nicht geltend gemacht werden könne, da diese „Umsiedlungsaktion ausschließlich auf militärischen und sicherheits-polizeilichen Maßnahmen beruhte“. Die Erfassung, Verfolgung und Internierung der Roma seit 1933, Zwangssterilisierungen, Deportationen und die Vernichtung einer halben Million Menschen aus rassischen Gründen wird seitens der Justiz auch bei Frau Weiss in ihrer ganzen Tragweite vorsätzlich außer Acht gelassen. Mit 65 Jahren erhält sie eine Rente nach dem Bundesentschädigungsgesetz, die mit der Sozialhilfe verrechnet wird. Ein Antrag des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma führt 2000, also 55 Jahre nach den Geschehnissen, zu einer Einmalzahlung durch den Siemens-Konzern aufgrund der geleisteten Sklavenarbeit. Die Summe wird allerdings mit einer späteren Entschädigung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft verrechnet. Proteste seitens des Förderverein Roma bleiben erfolglos. Frau Weiss bekommt noch eine einmalige Zahlung in Höhe von 2556 €. Summiert man die Entschädigungszahlungen seit 1956, so bleibt ein Almosen für die lange Zeit von Verfolgung, Terror, Gewalt und den Verlust der Familie.

Die letzten Jahre waren für Maria Weiss gezeichnet von Enttäuschung und Schmerz. Sie leidet an Osteoporose, Arthrose, hat starke chronische Schmerzen an Hüfte, Rücken, Lenden und Bandscheibe. Die Atemwege sind verengt. Hinzu kommen eine Herzerkrankung, Gallen- und Darmprobleme, Depressionen, Traumatisierung und starke Schlafstörungen. Eine Therapie wird von der Kasse nicht übernommen. Frau Weiss bleiben nach Abzug aller Kosten noch 280 € zum Leben. Der ewige Streit um die Finanzierung von Medikamenten zermürbt. Ihr Gesundheitszustand wird immer bedenklicher. Arztberichte dokumentieren Apathie, Angstzustände, Antriebslosigkeit und Verzweiflung. Im August 2006 beschreibt Maria Weiss letztmalig ihr Leben in einem längeren Interview vor der Kamera. Sie informierte über die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Roma oft an öffentlicher Stelle, um Lügen über die Verbrechen im Nationalsozialismus und dem Vergessen entgegenzutreten. Am 14.11.2006 stirbt sie nach langer schwerer Krankheit an den Spätfolgen der KZ-Haft im Kreis ihrer Familie.

Der 8. Mai ist auch Anlass, um die aktuelle Situation von Roma darzustellen. Seit Jahren häufen sich Mitteilungen über die europaweite Zunahme von Ausgrenzung und rassistischer Gewalt. Die Corona Pandemie verdeutlicht die besondere Lage. Nicht zuletzt trifft sie Roma- und Sinti Familien – vor allem diejenigen, die in Armut und Obdachlosigkeit leben müssen. In Bulgarien werden Roma-Viertel isoliert, da ihnen die Infizierung und Verbreitung des Virus unterstellt werden. Eine Maßnahme, mit der keine andere Bevölkerungsgruppe des Landes konfrontiert wird. Im Kosovo bemängeln Roma-Politiker die mangelnde Information und Unterstützung, sie greifen auf eigene Initiativen zurück. Aktivisten aus Bosnien-Herzegowina berichten über die zunehmende Verelendung, weil wesentliche Einnahmequellen, nämlich die Sammlung und Verwertung von Wertstoffen nicht mehr möglich sind; öffentliche Hilfe bleibt aus. In Albanien protestiert die Roma Community über Verarmung aufgrund der Ausgangssperre. Bei der Verteilung von Lebensmittelpaketen werden Roma benachteiligt, medizinische und finanzielle Hilfen bleiben aus. In Nord-Mazedonien wurden Roma Musiker im Gegensatz zu anderen Einreisenden in Zwangsquarantäne genommen; infiziert waren die Betroffenen nicht. In der Slowakei werden landesweit im Rahmen der größten zivilmilitärischen Operation in der Geschichte des Landes ausschließlich Roma Siedlungen, d. h. Viertel, die über Jahrzehnte im Elend gehalten wurden, überprüft. Legitimiert wird die Aktion mit der stigmatisierenden Begründung, dass das öffentliche Leben und die öffentliche Sicherheit nur so aufrechterhalten werden könne. Die ungarische Regierung instrumentalisiert die Corona Pandemie, hetzt gegen Roma und verweigert Entschädigungen, die ihnen aufgrund von Segregationen im Schulbetrieb seit Monaten höchstrichterlich zustehen. Die Erklärung des Ausnahmezustandes in Ungarn findet ihre Begründung u. a. in der breiten Diffamierung von Roma.

Anstatt schnell und angemessen Unterkünfte für obdachlose Roma zur Verfügung zu stellen, lassen sich auch viele westeuropäische Städte Zeit. Frankfurt reagiert bezüglich der Bereitstellung von adäquaten, den aktuellen Gesundheitsempfehlungen gemäßen Räumen nur ungenügend. Die völlig undurchsichtige, einer grundsätzlichen demokratischen Kontrolle entzogene Verfahrensweise der Zimmervermittlung offenbart ihre Unzulänglichkeit und Willkür gerade in der gegenwärtigen Krisensituation. Eine angemessene Unterbringung von Obdachlosen angesichts der Corona Pandemie unterbleibt. Die Sozialberatung des Förderverein Roma berichtet exemplarisch über einen schwer körperbehinderter Mann, der zur Hochrisikogruppe gehört und sich in einer Frankfurter Notunterkunft befindet. Nur ein bisher verweigertes Hotelzimmer kann gewährleisten, die dringend erforderlichen Distanz- und Hygienemaßgaben umzusetzen. Das Jugendamt hat einen Großteil seiner externen ambulanten Leistungen eingestellt. Auch das Angebot der humanitären Sprechstunden im Gesundheitsamt wurde eingeschränkt. Menschen, die bereits durch ein Leben am Rande der Gesellschaft, durch chronische Krankheiten und eine umfängliche Form der Ausgrenzung gezeichnet sind, sehen sich einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Die Todesfälle im Zusammenhang mit dem Corona-Virus häufen sich in der Gemeinde. Roma, die gezwungen sind, auf der Straße zu leben, ihre Existenz durch Musik, das Sammeln von Pfandflaschen, durch Betteln und Tagesjobs notdürftig sichern, sind durch das weitgehende Einstellen des öffentlichen Lebens besonders hart betroffen. Viele, die im Reinigungsbereich, in der Hotelbranche oder am Bau oft prekär beschäftigt waren, haben als erste ihre Arbeit verloren.

Anlässlich des Gedenkens an den Tag der Befreiung, in Anbetracht der zunehmenden Ausgrenzung von Roma und Sinti in Europa und mit Blick auf die sich zuspitzende Situation aufgrund der Corona Pandemie wiederholt der Förderverein Roma seine Forderungen: statt der Verweigerung von Hilfe und der breiten Stigmatisierung von Roma und Sinti müssen die schnelle Bereitstellung von Wohnraum, die gesicherte gesundheitliche und alltägliche Versorgung sowie die Einstellung von Abschiebungen schnellstmöglich umgesetzt werden.

Ffm., den 6.5.2020