Förderverein Roma e.V. erinnert an den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz und
weist auf die historische Verantwortung und die aktuelle Situation von Roma und Sinti hin
(26.01.2021)




Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma, stellte fest:
„Die Erfahrung der Verfolgung und Vernichtung ist bei den deutschen Sinti und Roma bis heute präsent und prägend; es gibt in Deutschland keine Familie unter den Sinti und Roma, die nicht unmittelbare Angehörige verloren hat. Diese Erfahrung hat die Angehörigen der Minderheit besonders sensibilisiert, wenn neuer Rassismus und Hass gegen Ausländer aufkeimt …“

Roma Familien aus allen europäischen Ländern teilen diese Traumatisierung. Über eine halbe Million Menschen der größten europäischen Minderheit sind in der NS-Zeit ermordet worden. Erst 40 Jahre nach Verfolgung und Vernichtung, nämlich 1982, wurde der Völkermord an Roma und Sinti in Deutschland anerkannt.

Bereits im Dezember1938 ordnete Himmler die Erfassung alle Roma und Sinti im deutschen Reich an. Juden und Roma wurden ab September 1939 nach Polen deportiert und durch den Festsetzungserlass einen Monat später gezwungen, sich in ihren Wohnungen zum Transport bereit zu halten. Ab Mai 1940 fanden Massendeportationen statt und zwei Jahre später stand fest, dass Juden, Roma und Sinti vernichtet werden sollen. Die Nacht vom 2. auf den 3. August stellte den Höhepunkt der Vernichtung der Roma und Sinti in Auschwitz dar. Allein in dieser Nacht wurden nach neuesten Untersuchungen über 4000 Menschen vergast.

Am 27.1.1945 wurde Auschwitz befreit. Den sowjetischen Truppen bot sich ein unfassbares Bild. Eine überlebende Romni berichtet „Alles, was ich damals erlebt habe, kann ich nicht vergessen, bis auf den heutigen Tag. Regelmäßig habe ich nachts Alpträume, dann träume ich von all dem Schrecklichen, das ich in Auschwitz und anderswo erlebt habe, ich wache dann mitten in der Nacht aus meinen Träumen auf und zittere am ganzen Körper. Die Angstträume kehren immer wieder zurück, sie sind ein Teil von mir geworden, den ich nicht mehr loswerde.“ Hermann Langbein, ebenfalls ein Auschwitz-Überlebender, beschrieb, dass es im Vernichtungslager Auschwitz Birkenau nichts Elenderes gab als den sogenannten „Zigeunerblock“. Viele bezeichnen Auschwitz als Hölle, weil ihnen die Worte zur Beschreibung fehlen. Roma und Sinti waren Opfer von Sonderkommandos, von medizinischen Experimenten, von unmenschlichen Arbeitsbedingungen – sie waren Opfer der fabrikmäßig organisierten perfekten Mordmaschinerie.

Die Vorstufe zur Vernichtung wurde durch die Erfassung aller im deutschen Reich lebenden Roma und Sinti geschaffen. Robert Ritter, Leiter der „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes Berlin“ und seine enge Mitarbeiter Eva Justin waren hierfür maßgeblich verantwortlich. Ihre sogenannten „rassenbiologischen“ Untersuchungen registrierten minutiös über 20.000 Roma und Sinti. Sie leisteten damit die Voraussetzung für die spätere fabrikmäßige Vernichtung. Im Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main befand sich das Erbarchiv. Es diente zur Erfassung und Kategorisierung von Menschen gemäß den Kriterien „Fremdrassig, Jude, Zigeuner“. Das Amt kooperierte eng mit dem Reichssicherheitshauptamt, d. h. der „Dienststelle für Zigeunerfragen“, der Frankfurter Kriminalpolizei, dem Reichsgesundheitsamt, den Meldestellen und Standesämtern. Es bereitete so die Einweisung in die Psychiatrie vor, begleitete Verfahren beim Erbgesundheitsgericht und entschied bei Zwangssterilisationen.

Eva Justin verfasste eine Doktorarbeit mit dem Titel „Lebensschicksal artfremd erzogener Zigeuner“. Sie untersuchte 39 Sinti Kinder in einem Kinderheim der Caritas in Mulfingen bei Stuttgart. Nach Beendigung ihrer Studien starben fast alle Kinder in den Gaskammern von Auschwitz. Bereits in den 20iger Jahren wurde durch Wilhelm Leuschner, dem damaligen hessischen Innenminister, das „Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, das später den Nazis als Vorlage für ihre rassistische Gesetzgebung gegenüber Roma und Sinti diente, auf den Weg gebracht. Es sah Einschränkungen der Gewerbefreiheit, das Verbot, in „Horden“ (ab zwei Personen) zu reisen, die Erfassung von Fingerabdrücken und deren zentrale Speicherung im Münchener „Nachrichtendienst“ vor. Leuschner beschwerte sich, dass die Stadtverwaltung Frankfurt die bereits 1929 im Konzentrationslager Friedberger Landstraße internierten Roma auch dort meldete und so die Voraussetzung für einen Wandergewerbeschein erbrachte. Er empfahl den hessischen Behörden, Personen mit Adresse Lager Friedberger Landstraße auszuweisen. Bemerkenswert und bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass in den vielen Reden über den späteren Widerstandskämpfer Leuschner seine Verantwortung an der Verfolgung von Roma und Sinti regelhaft ignoriert wird.

Oberbürgermeister Krebs vertrieb kurz nach der Machtübernahme der Nazis Roma- und Sinti-Familien aus Frankfurt und kooperierte eng mit Polizeipräsident Beckerle. Beckerle ließ 1937 das Lager Dieselstraße, später auch das Lager Kruppstraße errichten und betrieb mit Hochdruck die systematisch Erfassung und Zentralisierung der Daten und die Internierung, die schließlich in die Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager führte. Im universitären Wissenschaftsbetrieb etablierte sich 1935 Ottmar von Verschuer als Leiter des Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene. Gerhard Stein, der Assistent von Verschuer, begann im selben Jahr mit rassenbiologischen Untersuchungen an Roma und Sinti in Frankfurt am Main und Berlin. Auch Josef Mengele studierte in den 30iger Jahren an der Frankfurter Universität.

1947 wurde Robert Ritter von Sozialdezernent Prestel als Stadtarzt und Leiter der Jugendsichtungsstelle für Gemüts- und Nervenkranke und der Jugendpsychiatrie nach Frankfurt am Main gerufen. Prestel war seit 1937 verantwortlich für die Konzentrationslager für Roma und Sinti in der Krupp- und Dieselstraße. Auch Personaldezernent Menzer stand hinter der Anstellung. Ritter empfahl sich gegenüber der Stadtverwaltung durch die Fragestellung, ob Umwelteinflüsse oder charakterliche Eigenarten Begründungen von asozialem Verhalten seien und schlug vor, Roma und Sinti in Lager unterzubringen. Justin folgte auf Wunsch von Ritter als Jugend- und Kriminalpsychologin ins Stadtgesundheitsamt Ffm. und profilierte sich durch Untersuchungen, die zum Gegenstand hatten, ob man vom Aussehen eines Menschen auf dessen kriminelles Wesen schließen kann. Ritter starb 1951. Verfahren auf Initiative von Roma und Sinti gegen Justin blieben erfolglos. Erst Anfang der 60er Jahre wurden die Verbrechen beider aufgrund von Veröffentlichungen in Quick, Spiegel und Stern sowie des Journalisten Valentin Senger wieder öffentlich diskutiert, Justin jedoch nicht verurteilt. Lediglich die Arbeitsstelle von Justin wurde auf den Bonameser Standplatz, wo auch Roma und Sinti lebten, verlegt. Sie erforschte dort erneut deren soziale Situation und war danach im Universitätsklinikum Ffm. tätig.

Erst im Jahr 2000 konnten die Roma-Union, der Förderverein Roma und etliche Privatpersonen mittels jahrelanger Öffentlichkeitsarbeit und durch private Gelder finanziert eine Mahntafel in der Braubachstraße anbringen. Sie wurde gegen die Mehrheit im Römer, gegen Proteste aus dem Ortsbeirat und dem Institut für Stadtgeschichte durchgesetzt. Die Gegner der Mahntafel behaupteten u. a., durch die Tafel würde ein Pilgerort für Neonazis entstehen. Mit derselben Begründung verweigerte die Stadt Rostock die Umbenennung eines Straßennamens in den von der NSU ermordeten Mehmet Turgut. Die Tafel erinnert an die ermordeten Roma und Sinti und daran, dass Ritter und Justin nach 1945 im gehobenen Dienste der Stadt Frankfurt standen. Die Tafel wurde nach dem Auszug des Stadtgesundheitsamtes während den Umbauarbeiten ohne Information des Förderverein Roma vom Institut für Stadtgeschichte entfernt. Nach Protesten konnte sie sichergestellt und wieder an historischem Ort angebracht werden. Weitere Orte des Erinnerns, der Mahnung an Verantwortung fehlen. Alleine die recht spät errichteten Gedenkplatten auf dem Hauptfriedhof, in der Krupp- und Dieselstrasse und am Stadtgesundheitsamt reichen nicht aus. Sie schließen auch nicht, wie der frühere Kulturdezernent Nordhoff formulierte, eine Lücke. Im Gegenteil, gerade jetzt ist es notwendiger denn je, daran zu erinnern, welche Rolle NS Bürgermeister Krebs und der Polizeipräsident Beckerle bei der Verfolgung von Roma und Sinti hatten. Es soll nicht verschwiegen werden, dass KZ-Arzt Mengele und Otmar von Verschuer an der Frankfurter Uni tätig waren. Hinweise über die Machenschaften des Erbgesundheitsgerichtes während der NS-Zeit und die Informationen, aus welchen Schulen Roma-Kinder entfernt wurden, stehen aus. Und schließlich bleibt die langjährige Forderung, ein zentrales Mahnmal zu errichten.

Die Aufklärung der Brandanschläge auf schlafende Roma und einem von Roma bewohnten Mehrfamilienhaus in Frankfurt im Jahr 2016 steht immer noch aus. Mit Nachdruck wird nicht ermittelt. Erinnert sei in dem Zusammenhang an die Hetze und den Anschlag in Fechenheim in den 90iger Jahren. Gegenstand war damals nicht die Überlegung über die Ursache des Elends der Betroffenen oder die Bemühung, erträgliche Lebensumstände zu schaffen. Es ging vielmehr darum, ihren Aufenthalt zu verunmöglichen, sie zum Verlassen des Hauses oder der Stadt zu nötigen. So schließt sich der Kreis der Betrachtung. Unschuldig bleiben in dieser Logik von Gewalt und rechtfertigender Erklärung allein die Initiatoren der Ausgrenzung.

Die alltägliche Marginalisierung von Roma aus Osteuropa und die massenhafte Abschiebung von Roma Flüchtlingen ins ehemalige Jugoslawien, in Elend und Gewalt, bleibt absichtlich geschichtslos. Die umfängliche Herabwürdigung von asylsuchenden Roma aus Serbien, Bosnien und Mazedonien, ist allgegenwärtig. Mit der Einstufung der Länder des ehemaligen Jugoslawiens als sichere Herkunftsländer durch die Bundesregierung – nicht zuletzt wegen dem Votum eines grünen Ministerpräsidenten - ist die Abschiebung von 80.000 Roma in Perspektivlosigkeit, Armut und Gewalt gemachte Sache. Die Situation in Osteuropa wird für Roma zunehmend gefährlicher. Ungarische Juden, die in Parlament und Regierung sind, sollen sich nach Meinung der rechtsradikalen Partei Jobbik registrieren lassen, weil sie angeblich eine Gefahr für das Land darstellen. Die Auftragsmorde an Roma, denen neun Personen zum Opfer fielen, die Diskriminierung und die Zuschreibung als Sündenbock für politische und ökonomische Fehlentwicklungen dokumentieren individuelle und gesellschaftliche Gewalt.

Es geht auch in westeuropäischen Städten vielen Roma-MigrantInnen schlecht. Gesetzesänderungen reduzieren oder verweigern den Rechtsanspruch auf Hilfe. Die Frankfurter Brache, auf der obdachlose Roma eigenbestimmt lebten, wurde geräumt, weil nicht alleine die Unterlassung von öffentlicher Hilfe ausreichte. Das Ordnungsamt zerstörte darüber hinaus auch die Struktur der Selbsthilfe. Verstärkt wurde dagegen die Kontrolle im öffentlichen Raum, Barverwarnungen ausgesprochen, es erfolgten unrechtmäßig stigmatisierende Sichtvermerke in Pässen und es wird immer stärker geprüft, ob nicht die Ausweisung der EU-Bürger, die im Elend leben, umgesetzt werden kann. Das EU-Freizügigkeitsrecht wird zunehmend verschärft. Ohne sie namentlich zu nennen, sind Roma die Adressaten. Formulierungen wie „schwer integrierbare Familien“, „Sozialmissbrauch“ oder „Rechtsmissbrauch“ sind bekannte Synonyme. Die freigesetzte Assoziationskette ist eingeübt und funktioniert hervorragend. Den Betroffenen wird die Freizügigkeit entzogen, d. h. das Grundrecht, welches nicht nur die EU-Osterweiterung, sondern den gesamten europäischen Einigungsprozess bedingt und nach dessen Vereinbarung vor allem die deutsche Ökonomie glänzende Geschäfte macht. Beschlossen sind Sanktionen wie härtere Strafen, Ausreisepflicht, Ausweisungen mit Einreisesperren und höhere Zugangsvoraussetzungen für den Leistungsbezug. Freier Personen-, Dienstleistungs- und Warenverkehr gilt nicht für jeden und alles. Armut wird nicht mehr auf das zurückgeführt, was sie verursacht, nämlich Ausgrenzung, Chancenlosigkeit, Gewalt, Rassismus und Antisemitismus. In der medialen und politischen Darstellung wird auf persönliches Versagen, individuelles Unvermögen oder böswillige Gegenkonzepte verwiesen. Den Betrachtern präsentiert man gleichzeitig Bilder von kinderreichen Familien aus Rumänien und Bulgarien mit dunkler Hautfarbe und schwarzen Haaren. Marginalisierung und strukturelle Gewalt gegenüber Roma nehmen zu. Der Verelendung wird mit ordnungsliebender Hilfeversagung begegnet, Armut mit Inobhutnahmen und Einschüchterung. Die Restriktionen in der Gesetzgebung werden mit Eifer ausgeführt. Die Fälle von Diskriminierung häufen sich. Eine Frankfurter Studie, die die Missstände kritisiert, wurde erst mit erheblicher Verspätung veröffentlicht.

Die Corona Pandemie betrifft marginalisierte Menschen am Stärksten. Roma Flüchtlinge und MigrantInnen sind besonders hart mit der Corona-Pandemie konfrontiert. Europäische Roma Verbände berichten von schweren Misshandlungen in der Slowakei und in Rumänien. Sie werden als Verursacher bezeichnet und ihre Persönlichkeitsrechte mit Füssen getreten. Schnell wurde deutlich, dass das Virus nicht, wie es zu Beginn der Krise noch hieß, alle gleichermaßen betrifft. Die getroffenen Schutz-Maßnahmen schützen nicht alle gleichermaßen. Schonungslos offenbart und vertieft Corona bestehende soziale Ungleichheiten. Verschärfend kommt hinzu, dass die Debatte als auch die politischen Maßnahmen die in den Gesellschaften bestehenden Vorurteile weiter schüren. So stigmatisierte die Berichterstattung über die lokalen Ausbrüche in zwei Göttinger Hochhäusern die BewohnerIinnen und leistete rassistischer Hetze Vorschub. Stimmen der Betroffenen blieben lange ungehört, strukturelle Faktoren, die Ansteckungsrisiken erhöhen und den Zugang zur Gesundheitsversorgung erschweren, oftmals unerwähnt. In Frankfurt häufen sich die Versagungen von Leistungen und Unterbringungen entsprechen nicht den notwendigen Regeln. Behördliches Handeln wird zunehmend willkürlich, persönliche Kontakte sind aufgrund der Schließung der Ämter für die Hilfesuchenden kaum noch möglich, es wird nach Aktenlage entschieden und das zu oft zum Nachteil der Betroffenen.

Der Förderverein Roma e. V. wird im Herbst dieses Jahres in Zusammenarbeit mit der Bildungsstätte Anne Frank und der Medienpädagogin Ursula S. Pallmer eine interaktive Ausstellung eröffnen. Die Erfahrungen und aktuellen Lebensentwürfe vieler junger Roma und Sinti bezeugen die Wirkungsgeschichte von Vernichtung, Verfolgung und Diskriminierung, sie vermitteln die generativen traumatischen Prägungen in den Familien bis in die Gegenwart. Gleichzeitig sind sie ein Zeichen für Hoffnung, Widerstand, Identität und Perspektive!

Ffm., den 26.01.2021